Technik und Normung

Gefährdeter
Fortschritt

Stellen Sie sich vor, die EU-Kommission hätte verboten, europäische Internetseiten zu aktualisieren und neue zu veröffentlichen, weil die aktuellen Rechtsvorschriften dazu nicht ausreichend sind. Gleichzeitig hätte die EU-Kommission angekündigt, den zukünftigen Rechtsrahmen neu zu schaffen, so dass das Verbot spätestens 2045 aufgehoben werden könne. Das würde bedeuten: Jahrzehntelanger Stillstand im Netz! Unvorstellbar, oder?

Leider nicht! Denn ein ähnliches Vorgehen sieht die EU-Kommission im Bereich harmonisierter Bauprodukte vor. Seit 2018 sind praktisch keine europäisch harmonisierten Bauproduktnormen mehr im EU-Amtsblatt zitiert worden. Über 100 Bauproduktnormen wurden in der Zwischenzeit entwickelt bzw. weiterentwickelt, sind aber nicht rechtskräftig eingeführt worden. Damit öffnet sich die Schere zwischen dem tatsächlichen Stand der Technik und dem Stand der Normung täglich weiter. Trotz aller Bekenntnisse zur besonderen Bedeutung der Normung blockiert die EU-Kommission auf unbestimmte Zeit den technischen Fortschritt im Bausektor.

„Normung wird für Deutschland und somit auch für Europa aus strategischer und wettbewerbspolitischer Sicht immer wichtiger.“
Dr. Franziska Brantner MdB,
Parlamentarische Staatssekretärin (BMWK)
Ansprechpartner
Dr. Berthold Schäfer, Geschäftsführer Technik
b.schaefer@bvbaustoffe.de

Revision der Bauprodukte-Verordnung

Gegen das Votum der Stakeholder hat sich die EU-Kommission für eine komplette Neufassung der Bauprodukte-Verordnung entschieden und Ende März 2022 einen entsprechenden Vorschlag vorgelegt. Dieser umfasst zahlreiche Neuerungen, wie die Einbeziehung der Installation von Bauprodukten, die Verwendung gebrauchter Produkte, die Einführung einer zusätzlichen EU-Konformitätserklärung und die Verpflichtung zur Angabe von Umwelt- und Nachhaltigkeitsmerkmalen bei Bauprodukten. Kern der neuen Verordnung ist die Einführung einer „harmonisierten Zone“, in der die EU-Kommission alleinige Regelungskompetenz hat. Die europäischen Normungsorganisationen sollen weiterhin die technischen Inhalte zuarbeiten, die EU-Kommission behält sich aber vor, durch delegierte Rechtsakte jederzeit auch inhaltlich eingreifen zu können.

Was im Entwurf der neuen Bauprodukte-Verordnung bisher nicht geregelt ist, ist eine Vorgabe, wie harmonisierte Normen zukünftig gestaltet sein müssen, um wieder im EU-Amtsblatt veröffentlicht werden zu können. Auch zum Abbau des bestehenden Normenstaus gibt es weder im Entwurf noch unabhängig davon einen Vorschlag der EU-Kommission.

Reaktionen

Der bbs hat ebenso wie zahlreiche andere Verbände auf die Defizite des Verordnungsentwurfs hingewiesen und auf Änderungen gedrängt. Allerdings wurde die Industrie nur im Rahmen unverbindlicher Konsultationen beteiligt. Ausschlaggebend werden die Vorschläge sein, die EU-Rat und EU-Parlament durch ihre Änderungsbeschlüsse einbringen. Die bisherigen Änderungsvorschläge, zum Beispiel vom Ausschuss für Binnenmarkt und Verbraucherschutz greifen zwar einige Bedenken der Industrie auf, weitere zentrale Bedenken aber haben keinen Eingang gefunden. Insbesondere die Forderung nach einer Brückenlösung, die dazu dienen soll, das bestehende Normenwerk aktuell zu halten, bis die neuen Normen auf Basis einer revidierten Bauprodukte-Verordnung vorliegen, wurde noch nicht aufgegriffen. Der bbs spricht sich dafür aus, die Industrie stärker in den Entwicklungsprozess einzubeziehen.

Weiteres Verfahren

Es ist davon auszugehen, dass ab Herbst 2023 ein Trilogverfahren beginnt, in dem sich EU-Kommission, -Rat und -Parlament auf einen Kompromiss verständigen sollen. Die EU-Kommission selbst geht davon aus, dass die neue Bauprodukte-Verordnung 2027 in Kraft treten könnte, wenn bis dahin wenigstens für 10 Produktbereiche die Anforderungen an die harmonisierten technischen Spezifikationen vorliegen. Die vollständige Umsetzung für alle Produktbereiche soll aber auch nach aktuellen Schätzungen weiterhin erst im Jahr 2045 vollzogen sein. Der bbs wird weiterhin auf die Missstände in der Normung hinweisen, so zum Beispiel auch im 2023 vom BMWK neu gegründeten Strategieforum für Standardisierung.

— Veröffentlicht im Juni 2023

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Botschaften

Normenstau auf EU-Ebene beseitigen

Brückenlösung für Umstellung auf neue Bauprodukte-Verordnung schaffen

Überforderung der Industrie durch neue Vorgaben vermeiden

Digitalisierung im Bauwesen stärken
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